Städte aus Gold, Wale mit einer Haut wie ein Kiesstrand, so groß wie Inseln, und riesenhafte Menschen, die von entlegenen Küsten winken. Die Fantasie der Seefahrer schien keinerlei Grenzen zu kennen. Auch wenn sich die Motivationen für diese oftmals erstaunlich langlebigen Geschichten für uns heute in vielen Fällen nur mehr erahnen lassen – belächeln sollte man diese auf keinen Fall. Immerhin lassen sich laut Dokumentarfilmer und Bestseller-Autor des nun erstmals auf Deutsch erschienenen „Atlas der erfundenen Orte“, Edward Brooke-Hitching, zahlreiche (und auch mit heutigen Verhältnissen vergleichbare) Gründe finden, wie es zu den absonderlichen Berichten kam. So sicherte eine fabelhafte Geschichte ihren Erfindern beispielsweise nicht nur ein großes Maß an Aufmerksamkeit, sondern konnte auch die Fördergelder für das nächste Abenteuer einbringen. Ein Unterfangen, das allerdings auch nach hinten losgehen konnte wie das Beispiel von Frederick Albert Cook zeigt. Dieser behauptete nicht nur als erster den Nordpol erreicht zu haben, sondern am Weg dorthin auch noch eine Insel entdeckt zu haben, und wurde alsbald als Schwindler entlarvt.
Oftmals spielten (und spielen) in Bezug auf die Ausschmückung und Veränderung von Fakten aber auch politische Interessen eine Rolle. Schon der griechische Philosoph Platon benutzte das bis heute sagenumwobene Inselreich Atlantis um anhand eines angeblich stattgefundenen Krieges mit Athen die Überlegenheit der attischen Kultur zu dokumentieren. Trotz aller Zweifel an dessen Existenz stellt das untergegangene Reich nach wie vor für viele Menschen eine besondere Faszination dar. Bis heute strittig ist auch die Existenz der Insel Bermeja. Ob es das kleine Eiland, das die auf zahlreichen Karten des Golfs von Mexiko vom 16. bis zum 19. Jahrhundert eingezeichnet ist und erst im Jahr 2012 endgültig für nicht existent erklärt wurde, jemals gab, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Eine Verschwörungstheorie besagt, dass diese im Streit um das Gebiet im Golf von Mexiko von den Amerikanern abgetragen wurde. Wäre die in „Besitz“ von Mexiko befindliche Insel existent hätte der Mexikanische Staat aufgrund eines 1994 in Kraft getretenen Seerechts, welches Anrainerstaaten eine Nutzung von 200 (Meeres)Meilen zuspricht, einen klaren Vorteil hinsichtlich der Gewinnung des im Gebietes vorhandenen Öls.
Religion und der Hang zur Übertreibung
Wirft man einen Blick auf alte Landkarten, so verstecken sich dahinter neben kapitalistischen oder imperialistischen Interessen auch oftmals ganze Religionen. Im Christentum beispielsweise dienten Darstellungen der Erde vermehrt der Untermauerung eines Glaubenssystems als geografischen Tatsachen. Korrigiert wurden diese ob besseren Wissens aufgrund von ängstlicher Rücksichtnahme auf die kirchlichen Lehren auch Jahre später nicht.
Nicht immer lassen sich jedoch heimtückische oder spirituelle Absichten hinter falschen kartografischen Angaben ausfindig machen: Ungenauigkeiten der Messgeräte, Irrtümer bei der Übertragung oder Naturphänomene wie Luftspiegelungen konnten den (Welten)Entdeckern tatsächlich einen Streich spielen. Nicht zu unterschätzen ist auch das Wunschdenken. Im enthusiastischen Glauben an ein großes Landvorkommen ersehnten sich Generationen von Forschern einen Südkontinent – die so genannte „Terra Australis“. Was von den Landmassen, die die ganze Südhalbkugel bedecken sollte, übrig geblieben ist, nennt sich heute Australien. Vermutlich eines der lehrreichsten Kapitel im Buch.
Andere Kapitel wie jenes der Riesen von Patagonien handeln von einem sagenhaft großem Menschenvolk. Die Geschichte dahinter dürfte wohl eher dem Hang der Menschheit zur Übertreibung und dem Wunsch seinem Vorgänger noch eins drauf zu setzen zu verdanken sein. Immer wieder berichteten (darunter auch viele namhafte Seefahrer wie James Cook) von Menschen, die über neun Fuß groß (ca. 2,80 Meter) sein sollten. Heute vermutet man, dass es sich bei diesen vermeintlichen Riesen um das heute ausgestorbene Volk der Tehuelches-Nomaden gehandelt hat, „die ungefähr sechs Fuß groß waren, was den damaligen Europäern mit einer Durchschnittsgröße von einem Meter sechzig tatsächlich sehr groß vorgekommen sein muss“, so Brooke-Hitching.
Wie es allerdings zu der Mär kam, dass auf einer Insel mit Namen Orchades Enten auf Bäumen wachsen und wieso die Rochen auf der „Carta Marina“ von 1527-1539 in Seenot geratenen Menschen die Hilfe verweigern, sobald sie diese in Verdacht haben einmal im Leben Delphinfleisch gegessen zu haben, scheint sich auch der Kenntnis des Autors zu entziehen. Unterhaltsam zu lesen – und aufgrund der zahlreichen Bebilderung der einzelnen Kapitel auch äußerst hübsch anzusehen – sind die Geschichten rund um die erfundenen Orte allemal.
Brooke-Hitching, Edward: Atlas der erfundenen Orte. Die größten Irrtümer und Lügen auf Landkarten. Dtv Verlag: 2017. ISBN-13: 978-3423281416. 256 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Euro: 30.
Teilen mit: